Meyerhoff, Joachim: Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war

Meyerhoffs Buch öffnet die Augen und das Herz für Menschen, die „anders“ sind. Ein Buch also für jeden, aber ganz besonders für Logopäden, die dieser anderen Welt in ihrer Arbeit begegnen werden.
Ein faszinierendes Buch. Der Autor berichtet aus der Perspektive eines Knaben, der als Sohn des Chefarztes der Irrenanstalt in Schleswig-Hesterberg groß wird.
Mit unglaublicher Komik erleben wir die Atmosphäre der „Irrenanstalt“, der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie – wie sie heute heißt, komisch deshalb, weil das Kind die Erfahrung mit den „Geistig Behinderten“ als völlig normal erfährt, uns genial vorlebt, wie einfach es ist, wenn man die Schranke zwischen Normalität und Wahnsinn nicht kennt, wenn sie durch den täglichen, den alltägliche Umgang damit keinen Schrecken auslöst, sondern Heiterkeit, oft auch Erstaunen und durchaus auch manchmal Ekel oder Angst. Wenn man selbst – wie ich - Jahrzehnte mit dieser Klientel gearbeitet hat, weiß man die kluge, warmherzige Sichtweise des Autors zu schätzen und nachzuvollziehen. So wahrhaftig kann nur jemand über die Welt der psychisch „Anderen“ – ich vermeide bewusst das Wort "Kranken“ - sonst nicht schreiben. Ein liebenswertes Buch, voller Situationskomik, aber niemals – und das ist erwähnenswert – geschmacklos, herzlos oder verächtlich.
Von dem speziellen Ambiente abgesehen, ist auch die Schilderung des Geschwistertrios – drei Brüder, von denen der Autor der Jüngste ist – einfach göttlich. Ein literarisches, psychologisches Meisterwerk, wie da durch die Beobachtung vieler kleiner kindlicher Erlebnisse die komplizierte, aber sehr realistische Beziehung zwischen den Brüdern geschildert wird.
Nach zwei Dritteln kippt das Buch, das Lachen vergeht dem Leser und ist – so spürt man auch dem Autor vergangen. Der Tod kommt auf die Bühne und verlässt sie nicht mehr, ein Unfall mit einer Katze, der Tod des mittleren Bruder, der geliebte, alte Hund, der eingeschläfert werden muß und schließlich der Abschied vom Vater. Anrührend wie zwischen Distanz, Missverstehen und innerlicher Nähe eine Balance gefunden wird, wie liebvoll versöhnlich und doch vollkommen unsentimental der Frieden vom Sohn zum Vater den Tod akzeptabel, annehmbar und verkraftbar macht.
Ein bedrückendes Symbol beendet den Roman. Der Erzähler besucht die „modernisierte“ Irrenanstalt, die zu einer Topklinik nach modernen hygienischen Gesichtspunkten geworden ist. Das Bild am Ende zeigt - für eine Filmszene prädestiniert, wie absurd und inhuman die Vorstellung des „Besseren“ ist, wie viel mehr Wärme und Zuversicht vielleicht doch in dem altmodischen Konzept einer geschlossen familiären „Anstalt“ lag:
Der Erzähler steht in dem menschenleeren Parkgelände der Klinik vor dem ehemaligen Elternhaus, das jetzt Patienten beherbergt. Innen ist offenbar ein Kind, das an einem geschlossenen Fenster steht und gegen die Scheibe haucht, sodass sie sich trübt, sie dann wieder frei wischt, damit man hindurchsehen kann, aber immer wieder und wieder haucht, bis die Scheibe sich wieder trübt…
Marion Röttgen
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